Industry 4.0 and digitization in durability / Industrie 4.0 und Digitalisierung in der Betriebsfestigkeit

Industrie 4.0: bewährte Philosophie und neue Möglichkeiten in der Betriebsfestigkeit

Die Vernetzung einzelner Bereiche und Maschinen in einem Unternehmen, um etwaige Abweichungen im Produktionsprozess frühzeitig feststellen zu können, ist Bestandteil dessen, was wir seit einigen Jahren als Industrie 4.0 kennen. Ziel dieser Vernetzung ist es, das Verständnis für die einzelnen Prozessschritte zu erhöhen, um bei feststellbaren Abweichungen frühzeitig Gegenmaßnahmen ergreifen zu können. Die einzelnen Prozessschritte werden digitalisiert, um mit ihrer digitalen Abbildung bzw. einem digitalen Zwilling die Auswirkungen jedes einzelnen Prozessschrittes entlang der Wertschöpfungskette bzw. entlang des gesamten Lebensdauerzyklus analysieren zu können. Sind das wirklich vollständig neue Gedanken und Prinzipien? Können Industrie 4.0 und Digitalisierung von der Betriebsfestigkeit lernen? Bei der Antwort hilft ein Blick in die Historie der Betriebsfestigkeit und des Fraunhofer LBF.

Pioniere der Big Data Analysen

Seit der Gründung des Fraunhofer LBF als Laboratorium für Betriebsfestigkeit und noch vor dessen Aufnahme in die Fraunhofer Gesellschaft, publizierte Ernst Gaßner über die Erfassung und Berücksichtigung der komplexen, nicht konstanten Betriebsbeanspruchungen als Voraussetzung für die Realisierung des Leichtbaus. Dabei erkannte er, dass der wesentliche Erfolgsfaktor die zutreffende Abstimmung von Werkstoff, Konstruktion, Fertigung und Belastung aufeinander ist. Von Anfang an wird darauf hingewiesen, dass diese Einflüsse nicht seriell wirken, sondern sich gegenseitig beeinflussen. Aufgrund dieser wechselwirkungsbedingten Komplexität arbeitet das LBF seit mittlerweile 80 Jahren erfolgreich daran, die wesentlichen Einflussfaktoren zu identifizieren und zu quantifizieren.

Dem Hauptgedanken von Ernst Gaßner - nämlich die gemeinsame Betrachtung von Belastung und Belastbarkeit bzw. Beanspruchung und Beanspruchbarkeit bei variabler Betriebsbelastung - folgend, wurde der „8-Stufen-Blockversuch“ entwickelt. Dieser ermöglichte es, mit Hilfe von damals verfügbaren Prüfmaschinen Belastungskollektive im Prüfstand zu realisieren. Bis zum Aufkommen von servo-hydraulischen Prüfsystemen war dies der Standardversuch in der Betriebsfestigkeit. Voraussetzung für den „Gaßner-Versuch“ ist die Kenntnis der Betriebsbelastung, so dass im Zeitraum von 1940 bis 1975 entsprechende Messgeräte zur Erfassung von Betriebsbelastungen entwickelt wurden, z.B. das Kontaktdehnungsmessgerät von Svenson und die Klassierverfahren. Diese werden eingesetzt, um die betriebsfestigkeitsrelevanten Einflussgrößen, wie Mittelwerte und Häufigkeit von Amplituden unterschiedlicher Höhe von beliebigen Beanspruchungs-Zeit-Funktionen ermitteln und vergleichen zu können. Dabei werden die Signale mit Hilfe von unterschiedlichen mathematischen Methoden zusammengefasst und die Ergebnisse grafisch dargestellt, wobei entstehende Informationsverluste in Kauf genommen werden. Heute würde man nicht mehr auf einen Begriff wie „Klassierverfahren“ zurückgreifen, sondern man würde es als „Big-Data-Analysen“ in der Wissenschaft bezeichnen - Vorgehen und Ergebnisse entsprechen einander.

Eine Herausforderung in der experimentellen Betriebsfestigkeit ist der Umgang mit den teilweise sehr kleinen Stichprobenumfängen. Aus mathematischer Sicht ist es nicht möglich, robuste Kennwerte abzuleiten und zutreffende Streubänder anzugeben. Auf Basis vorhandener experimenteller Ergebnisse und Erfahrungen stellte Erwin Haibach in den 1960er Jahren daher die Methode der normierten Wöhlerlinie vor. Diese Methode würde heute ebenfalls als ein Ergebnis von Big-Data-Analysen bezeichnet werden.

Frühe digitale Zwillinge

In zahlreichen Forschungsprojekten konnte nachgewiesen werden, dass eine Voraussetzung für eine zutreffende Lebensdauerabschätzung von zyklisch beanspruchten Bauteilen und Strukturen die Berücksichtigung der Fertigungsprozesskette bzw. deren Auswirkungen auf das zyklische Werkstoffverhalten und somit auf das Bauteilverhalten ist. Um die Bedeutung der Interaktion zwischen Werkstoff, Konstruktion, Fertigung und Belastung und deren Einfluss auf die Betriebsfestigkeit zu unterstreichen, wurde 1984 im Fraunhofer LBF eine Abteilung mit dem Namen „Bauteilgebundenes Werkstoffverhalten“ gegründet; dieser Name ist bis heute fester Bestandteil des Instituts-Organigramms.

Mit dem Aufkommen von Computern wurden die Untersuchungsmethoden deutlich erweitert, so dass zum Ende 1980er Jahre im Fraunhofer LBF, ausgehend von der numerischen Fertigungssimulation, der Einfluss von unterschiedlichen Fertigungsparametern beim Festwalzen auf die Betriebsfestigkeit numerisch untersucht werden konnte. Aufbauend auf experimentell verifizierten und validierten Modellen besteht somit die Möglichkeit, den Einfluss von Fertigungsparametern, die experimentell oftmals nicht zugänglich sind, auf die Lebensdauer zu simulieren. Die Grundlagen für einen digitalen Zwilling, d.h. der numerischen Abbildungen eines Bauteils mit allen wesentlichen Eigenschaften, wurden damit gelegt. Die kommerzielle Vermarktung eines digitalen Zwillings erfolgte jedoch in einem anderen Bereich.

„Wheel Strength“

Seit Mitte der 1970er ist die Betriebsfestigkeit von Rädern ein fester Bestandteil des Forschungsportfolios am Fraunhofer LBF. Neben der Entwicklung spezieller Räderprüfstande, deren Weiterentwicklung bzw.  Anpassung an heutige und zukünftige Betriebsanforderungen, der Entwicklung einer geeigneten Sensorik zur Erfassung der Radlasten und der Lastdatenanalyse zur Ableitung von Betriebsbelastungen für einen Festigkeitsnachweis, wurde dieser prägende Versuch auch digitalisiert und steht seit der Jahr 2000 als Software „Wheel-Strength“ dem Anwender zur Verfügung. „Wheel-Strength“, der Betriebsfestigkeitsbaustein eines digitalen Räder-Zwillings, bildet den experimentellen Versuch im virtuellen Raum nach, so dass die Anzahl zeitintensiver Iterationsschleifen mit Prototypen reduziert werden kann. Obwohl diese Methode zur Bewertung der Betriebsfestigkeit von Rädern als Industrie-Standard bezeichnet werden kann, ist an dieser Stelle festzuhalten, dass insbesondere bei sicherheitsrelevanten Bauteilen auf einen experimentellen Festigkeitsnachweis nicht verzichtet werden kann.

Fertigungseinflüsse auf das bauteilgebundene Werkstoffverhalten

Für die Integration der Fertigungseinflüsse in die Räderbewertung werden Schnittstellen benötigt, mit denen das lokal vorliegende bauteilgebundene Werkstoffverhalten erfasst werden kann. Ob die benötigten Informationen bzw. Daten dabei aus Messungen, vorzugsweise zerstörungsfreien, oder Fertigungssimulationen stammen, ist zweitrangig, solange sie dazu beitragen, den tatsächlichen Werkstoffzustand zu qualifizieren. Im Bereich der Kaltumformung konnte wiederholt gezeigt werden, dass die Integration einer Umformsimulation zur Bestimmung der lokalen Bauteileigenschaften eine geeignete Methode dafür sein kann. Im Gegensatz dazu ist eine Gießsimulation nur ein erster Schritt, da sich Imperfektionen wie Lunker, Poren und Dross gegenwärtig numerisch nur bedingt vorhersagen lassen. Bei sicherheitsrelevanten Bauteilen sowie Großgussprodukten ist der Einsatz von Methoden der zerstörungsfreien Prüftechnik (zfP) Stand der Technik. An Korrelationen zwischen den Befunden der zfP und der Betriebsfestigkeit arbeitet Dr. Christoph Bleicher sehr erfolgreich, damit ein zutreffender numerischer Festigkeitsnachweis bzw. eine Fertigungskontrolle und somit eine Entscheidung, ob ein Bauteil mit Imperfektionen als Ausschuss deklariert werden muss oder nicht, anhand von zutreffenden quantifizierbaren Kennwerten reproduzierbar erfolgen kann. Daher wird intensiv an Korrelationen der Ergebnisse aus zerstörungsfreier Prüftechnik mit der resultierenden Schwingfestigkeit und damit an einen digitalen Zwilling gearbeitet, um die Abbildung der prozessbedingten Eigenschaften, speziell Lebensdauer, im virtuellen Raum zu verfeinern.

Ein verbessertes Verständnis über die einzelnen Fertigungsschritte und deren Einfluss auf das bauteilgebundene Werkstoffverhalten und somit auf das Bauteilverhalten kommt einem Betriebsfestigkeitsnachweis zugute.

Transientes Werkstoffverhalten

Für die Betriebsfestigkeit bedeutet Industrie 4.0 nicht nur, den Zugang zu den quantifizierbaren Eigenschaften für eine optimale Fertigung, sondern auch zu prozessbedingten Abweichungen zu bekommen, um das tatsächliche, bauteilgebundene Werkstoffverhalten im Betrieb abschätzen zu können. Dabei ist es wichtig, die für das bauteilgebundene zyklische Werkstoffverhalten relevanten Einflüsse und deren Auswirkungen beschreiben zu können. Neben Simulationen zur Beschreibung des Fertigungseinflusses, rücken immer mehr Methoden der zerstörungsfreien Messverfahren in den Fokus des Interesses, da mit diesen Methoden und Verfahren nicht nur der Istzustand des Werkstoffs nach der Fertigung erfasst, sondern auch dessen Eigenschaftsänderung unter zyklischer Beanspruchung ermittelt werden kann. Die Bedeutung an Verfahren zur Erfassung und Berücksichtigung des transienten Werkstoffverhaltens steigt an, sofern Sonderereignisse und deren Auswirkungen auf das bauteilgebundene Werkstoffverhalten bei der Bauteilfreigabe behandelt werden müssen. Denn sicherer, betriebsfester Leichtbau ist nur durch eine gemeinsame Betrachtung von Belastung und Belastbarkeit bzw. Beanspruchung und Beanspruchbarkeit möglich.

Virtuelle Prüfumgebung

Fasst man den Begriff digitaler Zwilling weiter und macht den Schritt vom digitalen Bauteil zum digitalen System hat sich das LBF bereits 2005 die ganzheitliche Realisierung einer virtuellen Prüfumgebung am Beispiel eines 12-kanaligen Achsprüfstandes zum Ziel genommen und im Anschluss von Marc Wallmichrath umgesetzt. Hierzu wurden Simulationstechniken aus unterschiedlichsten Disziplinen miteinander verknüpft. Über die numerische Spannungs- und Betriebsfestigkeitsanalyse hinaus sind hier beispielhaft Modellbildungen aus den Bereichen Hydraulik, Regelungstechnik, Software und Struktur- bzw. Systemdynamik zu nennen, die über geeignete Schnittstellen interagieren. Einen Schwerpunkt der Forschungstätigkeiten bildete deshalb die Realisierung einer gemeinsamen Plattform zur Integration der einzelnen Simulationsprogramme, die Steuerung der Datenübergaben sowie die zielgerichtete Auswertung und Visualisierung. Die erarbeitete Methodik zum Aufbau digitaler Zwillinge von Prüfsystemen wurde im Anschluss in einer Vielzahl von Industrieprojekten zum Aufbau digitaler Abbilder von Prüfständen umgesetzt.

Big Data in Fatigue Life Curves

Bleibt der Trend zu einer Verlängerung der Nutzungsdauer weiterhin bestehen, so kommt der Bewertung der Lebensdauer bei sehr hohen Zyklenzahlen eine besondere Bedeutung zu. Dieser Trend blieb bei der Forschungsplanung des LBF nicht unberücksichtigt, zumal bereits 1941 Gaßner und Pries darauf hingewiesen haben, dass zyklische Versuche mindestens bis zu einer Grenzschwingspielzahl von NG=1·108 Schwingspielen durchgeführt werden sollten, da die Schwingfestigkeit nach N=1·107 Schwingspielen noch abfallen kann. Dementsprechend hat Sonsino 2005 vorgeschlagen, die Schwingfestigkeit um 5% bzw. 10% pro Dekade nach dem Abknickpunkt zu reduzieren, falls für diesen Bereich keine experimentell abgesicherten Versuchsergebnisse vorliegen. Um eine Lebensdauerabschätzung anhand einer kontinuierlichen Wöhlerlinie von der Kurzzeitfestigkeit bis weit in die Langzeitfestigkeit durchführen zu können, stellte Wagener 2017 die Fatigue Life Curve vor, die genau diesen Ansprüchen genügt. Die Grundlage zu dieser Beschreibungsmethode für eine Lebensdauerlinie bilden Big-Data-Analysen.

Industrie 4.0 und Betriebsfestigkeit

Es bleibt somit festzuhalten, dass die grundsätzliche Idee von Industrie 4.0 am Fraunhofer LBF seit seiner Gründung als Laboratorium für Betriebsfestigkeit untrennbar mit den Entwicklungen in der Betriebsfestigkeit verbunden ist. Über die 80 Jahre der intensiven Betriebsfestigkeitsforschung haben sich die Möglichkeiten, das bauteilgebundene Werkstoffverhalten bei der Lebensdauerabschätzung zu berücksichtigen, signifikant erweitert, aber die Grundidee hat noch heute Bestand.